Entscheidung über neue SPD-Doppelspitze: Neukölln übernimmt komplett

Bei der SPD-Mitgliederbefragung über ihren künftigen Landesvorsitz setzen sich Martin Hikel und Nicola Böcker-Giannini vom rechten Parteiflügel durch.

Das Bild zeigt die ziemlich sicher künftigen SPD-Chef:innen Martin Hikel und Nicola Böcker-Giannini

„Kritisch begleiten“: Die wohl künftigen SPD-Chef:innen Martin Hikel und Nicola Böcker-Giannini Foto: Monika Skolimowska/dpa

BERLIN taz | Vielen Linken in der Berliner SPD grauste vor der Vorstellung. Nun ist es so gekommen. Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel und Ex-Sportstaatssekretärin Nicola Böcker-Giannini sollen an der Spitze der rund 18.000 So­zi­al­de­mo­kra­t:in­nen in der Hauptstadt stehen. In der zweiten Runde der SPD-Mitgliederbefragung zum künftigen Parteivorsitz stimmten 58,5 Prozent der Teilnehmenden für das Duo.

Beide werden dem rechten Parteiflügel zugerechnet und wollen nach eigener Aussage mit lieb gewonnenen „linken“ Errungenschaften aufräumen, zuvorderst mit der Gebührenfreiheit in Schule und Kita. Auf die Parteilinken Kian Niroomand und Jana Bertels, die genau davor vehement warnten, entfielen 41,5 Prozent. Das sei doch auch ein „beachtliches Ergebnis“, erklärte SPD-Noch-Landeschefin Franziska Giffey nach Auszählung der Stimmen am Samstagnachmittag in der Parteizentrale in Wedding.

Auch das Gesamtergebnis interpretierte Giffey für die anwesenden Jour­na­lis­t:in­nen auf ihre Weise: „Das bedeutet, dass wir eine sehr klare Entscheidung in der Partei haben.“ Böcker-Giannini, ihre Nachfolgerin in spe, spürte sogar einen „starken Rückenwind“.

Nun ist das mit dem Rückenwind Ansichtssache. Denn die Beteiligung an der Befragung lag mit 52,5 Prozent zwar leicht über der in der ersten Runde, als nur 48 Prozent der Ge­nos­s:in­nen in Berlin sich bemüßigt fühlten, von ihrem Mitspracherecht Gebrauch zu machen. Regelrecht berauschend war die sozialdemokratische Abstimmungsfreude aber auch in Runde zwei nicht.

Böcker-Giannini sprach von einer „durchaus respektablen Beteiligung“. An der Befragung der SPD-Mitglieder zu den Präferenzen für ihre Bundesvorsitzenden 2019 hätten prozentual schließlich auch kaum mehr teilgenommen.

Unterlegenes Duo lächelt tapfer

Trotzdem: Freudentaumelnde Gesichter stellt man sich anders vor. Martin Hikel schaute bei der Bekanntgabe der Ergebnisse permanent ernst, Nicola Böcker-Giannini vor allem bestimmt. Den – tapfer – lächelnden Part übernahmen dafür Kian Niroomand und Jana Bertels. Mehrfach betonte das unterlegene Duo, wieviel Spaß ihnen der vorangegangene Wahlkampf gemacht habe. Enttäuscht sei er trotzdem, sagte Niroomand. „Das müssen wir jetzt erstmal verdauen.“

Tatsächlich hatte sich das Ergebnis abgezeichnet. Bei der vor vier Wochen zu Ende gegangenen ersten Runde der Mitgliederbefragung hatten Hikel und Böcker-Giannini bereits über 48 Prozent geholt, während Niroomand und Bertels auf 36 Prozent kamen. Brutal abgestraft wurde hier Noch-Landeschef Raed Saleh, der es – anders als Franziska Giffey, die als Vorsitzende sowieso abdanken wollte – unbedingt noch einmal wissen wollte. Zusammen mit seiner jungen Mitkandidatin Luise Lehmann landete Saleh weit abgeschlagen bei unter 16 Prozent.

Jetzt sollen es also Hikel und Böcker-Giannini richten. Das heißt auch: Neukölln übernimmt komplett. Beide gelten als Vertraute der ehemaligen Neuköllner Bezirksbürgermeisterin Giffey, beide sind 2011 für die SPD in die Bezirksverordnetenversammlung Neukölln eingezogen. Böcker-Giannini wechselte 2016 ins Abgeordnetenhaus, Hikel trat 2018 die Nachfolge von Giffey im Rathaus Neukölln an, als diese zur Bundesfamilienministerin avancierte.

Streit ums 29-Euro-Ticket

Der Wahlkampf hat zugleich gezeigt, dass der Vertrauten-Status nicht zwingend viel bedeuten muss. So stellte das Neukölln-Duo im Wahlkampf ausgerechnet Giffeys Lieblingsprojekt zur Disposition, das 29-Euro-Ticket für alle. Die Berliner ÖPNV-Extrawurst sei unsozial, ungerecht, zu teuer, kann weg, so ihre Botschaft. Wie Hikel am Samstag auf Nachfrage klarstellte, werden er und Böcker-Giannini das Ticket sicher „nicht sofort stoppen, aber kritisch begleiten, wie es angenommen wird“.

Franziska Giffey stand mit versteinerter Miene daneben, um dann doch ihre eingeübte Moderatorinnenrolle zu verlassen. „Wir können es auch gar nicht stoppen“, mischte sie sich ein. Schließlich laufe der Vorverkauf auf Hochtouren, insbesondere Se­nio­r:in­nen freuten sich über der Ticket. „Und dann muss man Versprechen, die man gegeben hat, auch halten.“ Es war freilich Giffeys ureigenes Versprechen aus dem Wahlkampf 2023, auf das sie hier pocht.

Die wechselnden Allianzen in der Partei sind mitunter irritierend. Das zeigt auch das Beispiel des selbst erklärten Parteilinken Raed Saleh. Dem Vernehmen nach betrachtete der mächtige Spandauer, der seit 2011 allein an der Spitze der Abgeordnetenhausfraktion steht und 2020 zusätzlich den Co-Landesvorsitz übernahm, die Kandidatur des Parteilinken Kian Niroomand als eine Art Majestätsbeleidung.

Eingeschossen hatte sich Saleh aber zunächst auf Hikel und Böcker-Giannini, die er bei jeder sich bietenden Gelegenheit als kaltherzige Möchtegern-Sargträger:innen seiner Politik der Gebührenfreiheit anging. Vorbei und vergessen. Nach seinem Aus in der ersten Runde machte sich Saleh parteiintern für die Wahl des rechten Duos aus Neukölln stark.

Deutliche Kritik an der Politik von Fraktionschef Saleh

Hikel und Böcker-Giannini dankten es Saleh, indem sie ihn weiterhin kritisierten. Aktuell betrifft das insbesondere seine Pläne, allein als Fraktionsvorsitzender weitermachen zu wollen. Die künftigen Landesvorsitzenden werben ebenso wie Kian Niroomand und Jana Bertels für die Einführung einer weiblich-männlichen Doppelspitze.

Nicht so Saleh. Die eigentlich für Juni angesetzte Neuwahl des Fraktionsvorstands hatte er jetzt wohl auch deshalb kurzerhand auf kommenden Dienstag vorgezogen. Ein Antrag, eine Doppelspitze einzuführen, wurde vom erweiterten Fraktionsvorstand mit großer Mehrheit abgeschmettert. Seither rumort es, im salehkritischen Teil der Fraktion wie in der Partei. Die Rede ist davon, dass Saleh seine Machtbasis im Abgeordnetenhaus noch rasch sichern will, bevor die neuen Landesvorsitzenden offiziell ihr Amt antreten und ihm möglicherweise in die Parade fallen.

Martin Hikel gab sich in der Frage am Samstag zurückhaltend. Es bleibe eine Entscheidung der Abgeordneten, ob sie eine Doppelspitze wollen und ob am Dienstag der richtige Zeitpunkt für die Wahl sei, sagte er. Aber natürlich sollte die Fraktion die Angelegenheit „sehr bewusst“ abwägen, „auch angesichts dessen, was heute entschieden worden ist“.

Sehr viel deutlicher wurde da schon Kian Niroomand, der zu Salehs Schachzug erklärte: „Das ist genau der Stil, den viele Mitglieder dieser Partei nicht mehr wollen.“ Und nicht zuletzt die Mitgliederbefragung habe gezeigt, dass es in der Berliner SPD „ein großes Bedürfnis nach einem Neustart gibt“.

Showdown auf dem Parteitag

Beim Landesvorsitz soll besagter Neustart am kommenden Samstag auf dem Parteitag der Hauptstadt-SPD vollzogen werden. Das Ergebnis der Mitgliederbefragung ist dabei zwar nicht bindend. Die traditionell überwiegend linker tickenden Parteitagsdelegierten sind aber angehalten, dem Votum der offenkundig rechter tickenden Basis zu folgen. Oder wie Franziska Giffey es ausdrückte: das Ergebnis „aufzunehmen und nachzuvollziehen“.

Das werden die Delegierten vermutlich auch überwiegend tun. Die Frage ist freilich, wie groß oder klein die entsprechende Mehrheit ausfällt. Parteitage der Berliner SPD neigen jedenfalls zu Überraschungen.

Giffey und Saleh können davon ein Lied singen. Bei ihrer ersten und letzten Wiederwahl als Parteivorsitzende vor zwei Jahren kamen die beiden ge­gen­kan­di­da­t:in­nen­los auf nicht mal 60 Prozent. Nicht auszuschließen, dass Hikel und Böcker-Giannini ähnlich schlecht, vielleicht auch schlechter abschneiden.

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