Vom Gastarbeiterland zum Anwerberstaat: Kroatien macht „Rim Tim Tagi Dim“

Kroatien ist ein kleines Land mit nicht vielen Menschen. Und die wandern auch noch aus. Aber nicht nur beim ESC ist dieses Jahr sehr viel drin.

Menschen halten Schilder hoch.

Baby Lasagna-Fans beim Rim Tim Tagi Dim Tanz in Zadar in Kroatien Foto: Sime Zelic/Pixsell/imago

Holt Kroatien dieses Jahr das Triple? Vertreter des kleinen Landes an der Adria könnten ESC, EM und Olympia gewinnen, also mit Singen, Fußball- und Wasserballspielen Europas Siegertreppchen 2024 beherrschen.

Im Wasserball gehören die Kroaten traditionell zu den Favoriten. Im Fußball sind sie immer für eine Überraschung gut, und zum ersten Mal zählen sie nun auch zu den Favoriten des Europäischen Liederwettbewerbs. Für die Buchmacher und die ESC-Fanorganisation ist der kroatische Künstler mit dem trotteligen Namen Baby Lasagna sogar absoluter Topfavorit.

Dabei ist der Hit „Rim Tim Tagi Dim“ zwar eingängig, musikalisch und performativ, aber letztlich nur die professionellere und glattere Version des letztjährigen Gewinners der Herzen, des Finnen Käärijä mit seinem „Cha Cha Cha“.

Aus unerfindlichen Gründen gewann aber eine Schwedin und nicht der Finne, und dann gab es Bestechungsgerüchte, schlechte Stimmung, dies, das. In diesem Jahr hat es den Anschein, als wolle man nachholen, was man letztes Jahr verpasst hat, und pusht den vermeintlich verrücktesten Titel, so gut es geht, nach vorne. Genauso gehaltsleer wie „Cha Cha Cha“ ist nämlich „Rim Tim Tagi Dim“. Es heißt nichts, eignet sich lediglich dazu, von allen laut und fehlerfrei mitgesungen werden zu können.

Cleverer Stadtjunge werden

Der Rest des Lieds kann jeder verstehen, denn der 1995 unter dem bürgerlichen Namen Marko Purišić geborene Kroate singt auf Englisch. Der Text handelt von einem jungen Mann, der seine Kuh verkauft und seine Heimat verlässt, in der Hoffnung, einer dieser gut aussehenden und cleveren Stadtjungs zu werden. Er hat Angst vor seiner eigenen Entscheidung und davor, seine Heimat zu vermissen.

Kroatien war schon immer ein Land, aus dem man wegging. Ganze Regionen wie Dalmatien waren im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Richtung Amerika und Ozeanien verlassen worden. Nach 1945 ging dann die nächste Generation in Richtung Europa. Bis heute stehen manche Gegenden, vor allem im Hinterland und auf den dalmatinischen Inseln, einfach leer.

Die Patrioten des kleinen Staates hatten sich bislang immer eingeredet, die Landsleute seien vor den Besatzern geflohen, vor Osmanen, Venezianern, Österreichern und Kommunisten. Nun leben sie schon über 30 Jahre zum ersten Mal seit dem Faschimus in einem unabhängigen Staat, und das größte Problem neben der Korruption ist die Auswanderung. Seit 1991 ist die Bevölkerung Kroatiens um 20 Prozent zurückgegangen, allein seit dem EU-Beitritt 2017 haben eine halbe Million Kroatien dem eigenen Land Lebewohl gesagt. Es ist nicht so, dass es in Kroatien keine Arbeit gäbe. Allein die Bezahlung ist draußen einfach wesentlich höher.

Für Nationalisten sind diese Menschen Verräter, die katholische Kirche und Konservative versuchen, ihnen mit Teufelsdrohungen und Flüchen ein schlechtes Gewissen einzureden und sie für den Untergang des Landes verantwortlich zu machen.

Nicht wirklich cool

Seit einigen Jahren aber ist etwas passiert, was es noch nie gab: Kroatien ist vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland geworden. Neben Touristen und ein paar nordeuropäischen Rentnern kommen vor allem Menschen aus Südostasien. Zum Arbeiten.

Mit einem Arbeitsvisum für ein Jahr sieht man sie inzwischen überall, im Tourismus, in der Pflege, der Müllabfuhr, der Landwirtschaft oder der Gastronomie. Das Land der Gastarbeiter ist zu einem Land geworden, das selber Gastarbeiter anwirbt.

Wirklich cool also ist es nicht, dass Baby Lasagna larmoyant seinen Abschied besingt. Wirklich cool wäre, Baby Lasagna würde seinen Landsleuten eine Botschaft hinterlassen: Behandelt den Jungen, der an meiner Stelle aus Nepal oder Bangladesch nach Kroatien zum Arbeiten kommt, als wäre er mein Bruder.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Seit 2012 Redakteurin | taz am Wochenende. Seit 2008 bei der taz als Meinungs, - Kultur-, Schwerpunkt- und Online-Redakteurin, Veranstaltungskuratorin, Kolumnistin, WM-Korrespondentin, Messenreporterin, Rezensentin und Autorin. Ansonsten ist ihr Typ vor allem als Moderatorin von Literatur-, Gesellschafts- und Politikpodien gefragt. Manche meinen, sie kann einfach moderieren. Sie meint: "Meinungen hab ich selbst genug." Sie hat Religions- und Kulturwissenschaften sowie Südosteuropäische Geschichte zu Ende studiert, ist Herausgeberin der „Jungle World“, war Redakteurin der „Sport-BZ“, Mitgründerin der Hate Poetry und Mitinitiatorin von #FreeDeniz. Sie hat diverse Petitionen unterschrieben, aber noch nie eine Lebensversicherung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.